Nach dem Tode.

Phantasie eines alten Mannes.
Wiedererzählt von Paul Bliß.
in: „Mußestunden,” Wochenbeilage des Leipziger Tageblattes, vom 03.10.1904


Also ich war gestorben.

Gestern früh um 8 Uhr, als die ersten Sonnenstrahlen in mein Krankenzimmer fielen, war ich sanft und zufrieden hinübergeschlummert in jenes unbekannte Land, aus dessen Bezirk noch immer kein Wanderer wiederkehrt.

Nun war ich also tot.

Man hatte meinen entseelten Leib in einen kostbaren Sarg gelegt, rund herum waren Palmen und Lebensbäume aufgestellt und am Kopfende brannten zwölf dicke, gelbe Kerzen, die in schwer silbernen Kandelabern steckten — eine heillose Verschwendung, über die ich mich noch im Tode ärgerte. Neben meinem Lager stand der Sargdeckel, über und über bedeckt mit breitbeschleiften Lorbeerkränzen, — ganz so, wie es sich für einen in Aerger und Sorgen grau gewordenen Hauswirt geziemte.

So sollte ich armer, alter Junggeselle, den seine zärtlichen Erben nun endlich todgepflegt hatten, noch drei lange Tage Parade stehen, bevor man mir Zeit ließ, meinen einsamen Weg nach dem Friedhof zu tun.

Wie gesagt, mein Leib war tot. Aber meine Seele lebte. Und sie war auch noch nicht aufgeflattert in den Aether. Sie war ein wenig neugierig, — war sie doch die Seele eines seligen Hauswirts — sie wollte dabei sein, wenn meine zärtlichen Erben den Raub teilten. Ich hatte nämlich verfügt, daß mein Testament unmittelbar nach meiner Grablegung erbrochen werden sollte.

Meine Seele hatte sich ängstlich verborgen; ganz tief in meinem alten gläsernen Uhrgehäuse lag sie und lauschte. Natürlich ahnte keiner meiner „trauernden Hinterbliebenen” etwas von der Anwesenheit dieses letzten Lebens von mir, denn sonst wäre ja der ganze Witz nicht gelungen.

Vormittags um die zehnte Stunde begann die Komödie.

Meine Erben nahmen die Beiliedsbezeugungen entgegen. Die Honneurs machte ein Neffe, ein stattlicher Vierziger, dem man den Lebemann sofort ansah. Er war tadellos gekleidet, denn sein Kredit war wieder hergestellt, seit ich entschlummert war. Sein Gesicht glänzte im rotbläulichen Schimmer, denn er hatte gestern abend die Schlüssel zu meinem Weinkeller gefunden. Er war müde zum Umfallen, aber er zwang sich eine Trauermiene auf und spendete mir so übermäßig viel Lob, als ob er mein Universalerbe wäre.

Neben ihm stand seine Schwester, eine gut erhaltene Witwe von 50 Jahren, die sich zu dieser fröhlichen Todesfeier eine hochmoderne Trauerrobe auf Pump genommen hatte, und während sie mit schluchzender Stimme immer aufs neue meine edle Gesinnung pries, als ob ich nie einen Mieter gesteigert oder gar exmittiert hätte, ließ sie ihre Blicke über die Toiletten der kondolierenden Damen gleiten, ob auch nicht eine eleganter und modischer gekleidet war als sie.

Ganz hinten in der Ecke, verdeckt durch ein Arrangement hoher Topfgewächse, stand der Sohn dieser Witwe, ein flotter Bursch von 22 Jahren mit zerhacktem Gesicht und charmierte mit meinem Zimmermädchen, einem feschen kleinen Gänschen, dem das einfache schwarze Kleid vortrefflich stand.

So ging das zwei Tage lang.

Schier endlos waren die Beileidsbezeugungen, und nie hätte ich mir träumen lassen, daß mir so viel teilnehmende Freunde auf dieser Welt lebten. In allen Tonarten wurde mein Lob gesungen, und Verdienste wurden mir nachgesagt, die ich nie im Leben gehabt hatte.

Alle meine Mieter waren dagewesen und hatten mehr oder minder wertvolle Kränze mitgebracht. Das gerade hatte mich am meisten geärgert. Denn noch jetzt muß ich es frei und offen bekennen, daß ich ihnen ein Tyrann im Hause war.

Mein Schuster und mein Schneider, denen ich immer die Rechnungen gekürzt und sie dann erst nach Jahren bezahlt habe, auch sie hatten mir Lorbeer gespendet. Zu komisch!

Sogar mein Barbier war gekommen, dieser Mann, den ich geärgert und geuzt habe zum Gotterbarmen, auch er brachte einen großen Kranz geschleppt.

Ach, mir wurde ganz ekelhaft, als ich all diese Erbärmlichkeit und Feigheit und Heuchelei sah!

Aus aufrichtiger Teilnahme hatte mir keiner etwas gebracht, denn sie haßten mich alle, allesamt. Das wußte ich. Aber das gerade wollte ich auch. Mir war meine Jugend, mein Glück, meine Liebe gestohlen worden, und so hatte man aus mir einen Menschenfeind gemacht; ich wollte sie tyrannisieren und knechten, meine Verwandten wie die fremden Leute, — ich wollte von allen gehaßt und gefürchtet sein, weil ich den Glauben an die Menschheit verloren hatte.

Nun war's ja zu Ende, gottlob!

Langsam bewegte sich der lange Trauerzug durch die Straßen. Tausende von Neugierigen stehen und gaffen den überreichen Blumenschmuck an.

Und meine Seele flattert mit.

Endlich ist der Friedhof erreicht. Das junge, frische Grün des ersten Frühlings schießt empor. Aus allen Zweigen hervor erklingen lustige Lenzstimmen. Millionen kleiner bunter Blumen schmücken die Erde. Und frischer, würzig duftender Geruch liegt rings in der Luft.

Ach, es ist schön, im Frühling zu sterben — —

Eine endlos lange Grabrede. Wieder Lob und Lob. Dann ein Schlußgesang, sehr stimmungsvoll und schön. Dann ein stilles Gebet. Und dann rollen die ersten Erdschollen auf den Sarg. — Es ist vollbracht. — Ruh' aus, mein alter, müder Leib, jetzt hast du Frieden.

Nach einer Stunde war mein blumengeschmückter Hügel einsam und verlassen.

Aber da, eben als die letzten Strahlen der sinkenden Sonne auf meine Ruhestätte fallen, da naht sich noch jemand.

Eine Frau, gebeugt und am Stock gehend, tief verhüllt in schwarzem Schleier. Langsam kommt sie näher. Sie bringt einen Kranz von duftigen Veilchen. Mit zitternden Händen legt sie die Spende auf den Hügel nieder. Und dann preßt sie die Hände ans Gesicht und weint lange und bitterlich.

O, wie meine arme Seele aufjauchzt!

Die ersten wahren Tränen, wuellend aus wehem Herzen — — — so habe ich also doch nicht umsonst gelebt — — —

Ja, meine gute Alte, weine nur — ich weiß, daß du um mich trauerst, ich weiß, daß du längst bereutest, was du einst mir getan hast, und nun, im Angesicht des Todes, habe ich dir alles verziehen — weine nur! Deine Trauer tut mir wohl, so wohl nach all der Heuchelei.

O, ich entsinne mich des Tages noch, als wir beide zum erstenmal uns fanden. Damals waren wir jung. Jahrzehnte liegen dazwischen. Ich besinne mich noch ganz genau darauf. — —

Der Flieder blühte. Ganze Wogen voll Duft umhüllten alles rings umher. Und im flutenden Sonnenlicht schwamm die prangende Welt.

Ich war eben gelandet. Mein Boot hatte ich befestigt. Und nun kam ich ans land. Da sah ich dich. Wie von einem Zauber geblendet stand ich still. Prangend in der Fülle deiner ersten Jugendblüte standest du vor mir. Ich glaubte zu träumen. Wie ein Märchen kam mir das alles vor. Und wie befangen von diesem Wundertraum schlich ich vorbei an dir. Ach, das Herz war mir zum Zerspringen voll. Ich war wie umgewandelt. Ich floh die Menschen. Keinen, keinen einigen wollte ich sehen. Allein nur mit meinen Träumen wollte ich sein. Und ich floh in den stillen Wald, weit, weit hinein, wo heilige Stille war, und dort warf ich mich in die hohen Farren, preßte mein glühend heißes Gesicht ins junge Grün und weinte vor lauter überschäumender Glückseligkeit.

Ach, ich hab' dich ja so lieb gehabt, du süßes Wesen, so unsagbar närrisch lieb — — —

Aber ich war arm und du warst reich — und so wurde nichts aus all unseren Plänen.

Ich weiß wohl, daß du unglücklich warst, als man dir einen reichen Mann aufzwang, aber ich konnte es damals nicht verhindern, ich nicht, du aber, du hättest auf mich hören sollen; ich hätte dich entführt, so wie du warst, ohne all deine Reichtümer, und ich hätte für dich gearbeitet, so lange ich noch atmen konnte. Dazu aber fehlte dir der Mut, und so hast du uns beide elend gemacht fürs ganze Leben. Ich bin dann durch die Welt gewandert, um alles zu vergessen. Für mich gab's nur eins, die Arbeit. Und ich habe gearbeitet! ruhelos und ohne Ermatten, bis ich ein reicher Mann geworden; und ich habe alle Liebe und alle Weichheit in mir erstickt, denn ich wollte hinfort nur noch hassen, — hasen und verachten —, weil ich so früh meines Glückes beraubt worden bin, und ich habe treulich gehalten, was ich mir gelobt hatte!

Auch dich wollte ich vergessen.

Nie habe ich nach dir geforscht, nie dich wiedergesehen. Und erst wenige Wochen vor meinem Hinscheiden brachte mir ein Zufall deine Spur.

Unglückliches Weib! Jetzt warst du arm. Dein Mann tot; euer Geld hatte er verbracht, und nun im Alter warst du und deine Kinder hülflos.

Ich war gerächt. — —

*           *           *

Ja, weine nur an meinem Hügel, du gute Alte, das tut mir so unendlich wohl, denn ich weiß nun ja, daß du mich nicht vergessen hast, — weine nur, aber verzweifle nicht, wenn ich auch nicht zu dir gekommen bin, dich zu trösten im Elend, ich habe dennoch an dich gedacht, auch an deine Kinder; der Tod, in seiner Erhabenheit, löscht ja alles aus: weine nur!

*           *           *

So ist nun mein Testament eröffnet.

Ha! ha! ha! — so habe ich nie gelacht! Die Gesichter von meinen trauernden Hinterbliebenen! Ja, liebe Kinder, so geht's, wenn man mit Summen rechnet, die man noch nicht hat! — Die Hälfte meines Vermögens habe ich jener armen alten Witwe vermacht und die andere Hälfte meinen Erben, — so, mein lieber Neffe, nun heißt es arbeiten, wenn man seine Schulden bezahlen will, — ja, meine geliebte Nichte, jetzt mußt du deine Hoffahrt mäßigen, jetzt muß man sich einschränken, wenn man ehrlich durch die Welt will, — arbeitet nur, ihr trauernden Erben, arbeitet nur, wie ich gearbeitet habe. — — Ha! ha! ha! — wie sie wettern und toben! Jetzt heißen sie mich nicht mehr edel und hochherzig, — ha! ha! ha! — ein alter Filz bin ich jetzt, ein herzloser Egoist, — ihre Gesichter glühen vor Erregung und aus den Augen funkelt die Wut, — jetzt bedauern sie sogar, eine so kostspielige Leichenfeier veranstaltet zu haben, — — — o, das wundert mich gar nicht, ich kenne die Menschen!

Nur du, meine gute Alte, du bist mir dankbar, Aus deinen Freudentränen lese ich es.

Ach, es ist so wohltuend, wenn man kurz vor seinem Hinscheiden noch so ein gutes Werk tun kann. Darum bin ich auch so friedlich eingeschlummert.

Eins aber höre noch! Sei deinen Kindern eine gute Mutter. Und wenn sie einmal ernsthaft lieben und einen Bund fürs Leben schließen wollen, tritt niemals hindernd dazwischen, sondern denke an uns, die wir beide so elend geworden sind.

Und nun leb' wohl!

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